«Ich wollte nie die Welt verändern»

Ruedi Widmer Von Isabel Brun am

Seine Cartoons schwanken zwischen Kummer und Komik. Gnadenlos ehrlich bringt Ruedi Widmer die Probleme unserer Welt auf den Punkt – nicht, ohne auch selbst darüber zu lachen. Ein Porträt über einen Mann, für den Humor überlebenswichtig ist.

«Ich bin wohl nicht der typische Künstler.» In Ruedi Widmers Atelier riecht es nicht nach frischer Farbe. Es liegen auch keine Pinsel herum. Stattdessen thront ein Computerbildschirm auf dem riesigen Pult in der Mitte des Raumes.

Daneben liegen Zeitungen, Bücher und sonstiger Krimskrams - böse Zungen würden behaupten, es herrsche Unordnung. Anfang der 2000er Jahre kaufte sich Widmer ein Tablet, seither entstehen seine Cartoons digital. «Total unromantisch», sagt er. Unromantisch und unbequem sind auch seine Karikaturen.

Der Mann hinter den Karikaturen: Ruedi Widmer. Foto: Isabel Brun

Wer die WOZ, den Tagesanzeiger oder den Landboten abonniert hat, kennt Widmers unverwechselbare, beinahe kindlich anmutende Zeichnungen mit den bitterbösen Kommentaren. Diese gegensätzliche Kombination machte den 46-jährigen Winterthurer bis über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Dabei plagen Widmer auch immer wieder Selbstzweifel - gerade aufgrund seines Anti-Stils.

Zweifeln und Hoffen

Seine krakeligen Figuren seien immer etwas aus dem Rahmen gefallen. Sie waren nicht schön im künstlerischen Sinne. Wenn Widmer erzählt, ruhen seine Hände verschränkt auf dem Tisch. «Ich hatte oft das Gefühl, dass ich zu wenig gut zeichnen kann», sagt er.

Zu den Grossmeistern Felix Schaad und Peter Gut habe er aufgeschaut. Heute ist er mit ihnen befreundet. Auch seine Selbstzweifel sind kleiner geworden. Während er sich früher für eine schlechte Karikatur auf der Strasse geschämt habe, nimmt er negative Rückmeldungen mittlerweile gelassen entgegen.

Bei Widmers Cartoons bekommen oftmals Politiker ihr Fett weg.

Doch der Karikaturist zeichnet nicht für Feedback. In erster Linie sind die Cartoons für ihn ein Ventil. «Zeichnen hilft mir, mit dem Weltschmerz umgehen zu können», sagt Widmer. Er merke, dass sich in seinem Umfeld eine gewisse Hoffnungslosigkeit breit mache. Mit seinen Witzen versucht er, dagegen anzukommen: «Lachen ist überlebenswichtig.» Ruedi Widmer, der Weltretter? Nein. «Ich wollte nie die Welt verändern. Aber durch Satire kann ein Thema soweit entwertet werden, dass es ertragbar wird.»

Traumberuf Architekt

Satiriker zu werden, war nicht immer Widmers Traum. Zwar zeichnete der gelernte Grafiker schon als junger Erwachsener gerne, allerdings gefiel ihm das Technische Gestalten weitaus besser. «Architektur interessiert mich noch heute», sagt er. Es erstaunt also kaum, dass er sich in seinem Büro im geschichtsträchtigen Volkarthaus in der Winterthurer Altstadt wohl fühlt. Aber was war ausschlaggebend für Widmers Werdegang zum Cartoonisten?

Der Ursprung liegt wohl einige Generationen zurück. Widmers «nicht blutsverwandter Urgrossvater» Carl Böckli arbeitete während des Zweiten Weltkriegs beim Schweizer Satiremagazin Nebelspalter. Mit seinen Äusserungen löste Böckli nicht nur mehrere diplomatische Krisen zwischen Nazi-Deutschland und der Schweiz aus, er sei auch der Grund gewesen, dass in Widmers Elternhaus der Nebelspalter allgegenwärtig war.

Nach einigen Aufträgen für Studierendenzeitschriften, meldete sich der junge Grafiker Widmer auf einen Stellenausschrieb des Winterthurer Lokalblatts Landbote. Er bekam den Job - und wurde Nachfolger des Schweizer Karikaturmatadors Peter Gut.

Freiheit versus Grenzen

Es sei eine wichtige Zeit gewesen, so Widmer. Da seine Zeichnungen lediglich in der Beilage zu sehen waren, habe ihm der damalige Chefredaktor freie Hand gelassen. «Ich glaube, mein Chef hat die Cartoons gar nie gesehen.» Auch heute kann sich der Karikaturist, der auch Kolumnen schreibt, seine Themen meistens selbst aussuchen. Für ihn «ein Privileg».

Auf die Frage, für welches Medium er am liebsten schreibt, gibt er keine klare Antwort, räumt aber gleich mit dem Vorurteil auf, dass er ein «Linker» sei, nur weil er für die WOZ arbeite. «Ich bin nicht so links, wie viele meinen.» In den meisten Bereichen sympathisiere er zwar mit den linken Parteien, trotzdem bleibe er als Freischaffender auch Kleinunternehmer. Deshalb seien für ihn auch liberalere Themen wichtig.

«Mehr Aufträge in kürzerer Zeit.» Auch der Karikaturist bekommt die Veränderungen in der Medienlandschaft zu spüren.

Widmers Handy klingelt. Es geht um einen neuen Auftrag: Eine Karikatur für den morgigen Landboten. «Das ist typisch für meinen Arbeitsalltag», sagt Widmer. Er streicht sich mit der flachen Hand über das Gesicht. «Jetzt muss ich mir heute Nachmittag noch etwas Passendes überlegen.»

Ob er manchmal gestresst ist? Klar, aber er brauche einen gewissen Druck, um zielgerichtet zu bleiben. «Die Zeichnungen werden nicht besser, wenn ich mehr Zeit habe.» Die Ideenfindung beschreibt er als eine Explosion, einen Geistesblitz.

Widersprüche walten lassen

Sein Ausgleich zum Beruf sei die Familie, meint der Ehemann und zweifache Vater. Ausserdem hat er neben dem Zeichnen eine Schwäche für gute Musik. Ende der 90er Jahre war Widmer Teil einer Electro-Pop-Band und versuchte sich im Songwriting. Ein technischer Fehler leitete jedoch das Ende dieser Ära ein. «Durch einen Festplatten-Absturz gingen fast alle Lieder verloren.»

Heute hört er Musik nur noch, anstelle sie selbst zu produzieren. Der Digitalisierung zum Trotz kaufe er noch immer CDs und Platten. Von Streaming-Plattformen hält er wenig: «Das ist mir zu viel. Ich muss das alles portionierter konsumieren.»

Auch aktuelle Themen werden in Widmers Karikaturen verarbeitet.

Zwar verzichtet der Cartoonist auf Spotify, in den Sozialen Medien ist er aber trotzdem aktiv. Er hat einen Facebook-, Instagram- und Twitteraccount. «Mir ist schon bewusst, dass Facebook nicht so gut ist», sagt Widmer. Doch Widersprüche gehören für ihn zum Leben dazu. «Die Menschheit will keinen totalen Verzicht, dazu ist sie zu inkonsequent.»

Gerade am Vorabend verfasste Widmer eine Kolumne über die Vorstellung eines globalen Shutdowns des Internets. «Die Forderung, das Internet abzuschalten, ist so blödsinnig wie ernst.» Da ist er wieder: Ruedi Widmers Drang, die Welt mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu sehen.


Beitragsbild: Ruedi Widmer by Press