«Wenn man am Ende ankommt, dann geht es weiter»

Gray Chalk, UNVAGUE Von Colin am

Im Dezember erschien das Album Expressions Of Transactional Behaviour von Gray Chalk auf seinem Label UNVAGUE. Der Berner spricht im Interview darüber, was das Album für ihn bedeutet.

Die Musik im Fokus: Gray Chalk auf der Suche nach der richtigen Platte. Foto: Marc Hofweber

Wie ist dein neues Album entstanden?

Gray Chalk: Dieses Album hat mich die letzten zwei Jahre begleitet. Begonnen hat das Projekt nach meiner letzten Veröffentlichung auf dem Label Light of other Days. Ich wusste, dass ich ein neues Projekt beginnen möchte, war aber lange nicht sicher, welche Form das Projekt haben wird. Generell tendiere ich dazu, dass ich neue Tracks beginne, sie jedoch nicht fertig produziere.

Ende 2017 habe ich das Album konzeptionell aufgebaut und mir klare Gedanken über die Form gemacht. Es war mir wichtig, welche Aussagen ich mit dem Album machen möchte. Deshalb war mir der emotionale Gehalt und die Stimmung der einzelnen Tracks bereits klar, bevor ich begonnen habe Aufzunehmen. Das gesamte Album habe ich anhand einer experimentellen Notation aufgezeichnet. Nach dieser Gliederung wusste ich schon, dass das Album aus 11 Liedern besteht. Bei jedem Stück wusste ich genau, wie lange es sein wird.

Dein Album kann man auch als Kassette kaufen. Weshalb Kassetten?

Gray Chalk: Mir war es sehr wichtig, dass das Album einen Kreis schliesst. Deshalb habe ich mich auch für die Kassette entschieden. Wenn die Kassette zu Ende abgespielt wird, dann startet zuerst der zweite Teil des Albums und danach beginnt das Album wieder von vorne. Es war mein Ziel einen Kreislauf zu kreieren, in dem man sich nicht bewusst ist, wo man gerade steht.

Das digital Release unterscheidet sich da von der Kassette. Hier ist nicht meine Absicht, dass man die Songs in einer gewissen Ordnung anhört. Hier können alle Stücke für sich alleine stehen.

Wie würdest du den Sound auf dem Album Beschreiben?

Gray Chalk: Das Album ist kein Dancefloor-Album. Mir war wichtig, dass es eine Einheit bildet, die sich jedoch nicht über ein bestimmtes Genre erschliesst. Ich denke es erklärt sich vieles über das Sounddesign, egal ob es nun ein Track ist mit Groove oder ein Ambient-Stück. Insgesamt ist es eher düster und ziemlich roh.

Warum hat die Produktion des Albums zwei Jahre gedauert?

Gray Chalk: Rückblickend war das Album wirklich ein Monsterprozess. Mich haben meine eigenen hohen Erwartungen an das Ergebnis gebremst. Ich war sehr danach orientiert, dass das Endergebnis toll sein muss. Diese Erwartungen konnte ich im letzten Teil des Prozesses loslassen und das hat mir enorm dabei geholfen das Album fertigzustellen. Es ist mir nicht wirklich wichtig, ob meine Musik von anderen Leuten als gut befunden wird. Viel wichtiger ist mir, dass ich es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung super finde.

Release Loading...

Du hast erwähnt, dass du von Anfang an wusstest, wie Lange die Tracks sein werden. Haben diese Zahlen eine Bedeutung, oder war das eher Zufall?

Gray Chalk: Die absoluten Zahlen haben für mich keine Bedeutung. Ich habe mir die zwei Mal 30 Minuten grafisch aufgezeichnet und dann begonnen, die Tracks in ein Verhältnis zu setzen. Ich habe bestimmt, wie viel Gewicht beziehungsweise Zeit ich einem Stück geben möchte. Danach habe ich die Längen der Stücke gemessen und in die Zeiteinheit umgerechnet. Die Zahl 04:29 hat keine Bedeutung, nur das relative Verhältnis der Stücke zueinander ist wichtig.

Was macht für dich ein gutes Album aus?

Gray Chalk: Gute Alben sind für mich diejenigen, welche ich sehr oft höre. Wenn ich bei jedem Mal hören etwas Neues entdecke und sie mit der Zeit immer besser werden. Ein super Album finde ich beispielsweise Donuts von J Dilla.

Das Album funktioniert auch als Kreis. Man kann es als Metapher für einen Lebenszyklus ansehen. Man weiss im Kreis nie ganz genau, wo man steht, ob am Anfang, oder am Ende. Wichtig ist: Wenn man am Ende ankommt, dann geht es weiter. Lustig finde ich, dass der erste Track des Albums das Outro ist und der letzte Track ist das Intro.

Auch Tim Hecker ist für mich ein super Beispiel für diese kreis-artigen Alben. All seine Alben verkörpern eine gewisse Unendlichkeit. Auch wenn ich diese Alben schon mehr als 100-mal komplett gehört habe, sind sie mir bis heute noch nie verleidet. Das kann man mit einem Waldspaziergang vergleichen. Der wird auch nie langweilig, weil man jedes Mal etwas Neues entdeckt.

In welchem Kontext würdest du dein Album empfehlen? Sollte es im Zug gehört werden, oder vielleicht beim erwähnten Waldspaziergang?

Gray Chalk: Im Wald auf keinen Fall! Das ist schade um den Wald, der so viel zu bieten hat. Dort läuft das Album ja bereits schon, auch wenn du keinen Knopf im Ohr hast. Im Zug hingegen würde ich es eher sehen, da der Zug für mich eine grosse Inspirationsquelle ist. Zugfahrten sind etwas Wichtiges in meinem Leben. Es löst in mir viel aus und wirkt auf mich fast schon hypnotisch. Hypnotische Zustände faszinieren mich generell, weil ich die Grenzen von meiner Persönlichkeit nicht mehr so stark unterscheiden kann wie im Alltag. Ein Track von meinem Album wurde übrigens nach einem Buch benannt, welches eine Passagierin vis-à-vis im Zugabteil gelesen hat.

Stream: Atlas #3 | Gray Chalk - Radio Bollwerk - 24.06.2018

Erzähl mir doch etwas von deinem Label UNVAGUE.

Gray Chalk: Trillion Tapeman und ich betreiben das Label seit zwei Jahren. Nach unserem ersten Release ist das Label relativ lange stillgestanden. Wir haben entschieden, dass wir es wieder zum Leben erweckt wollen. Ziel des Labels ist es nicht nur Musik zu veröffentlichen, sondern auch Dinge des aktuellen Kulturkontextes zu dokumentieren und abzubilden. Dazu gehört beispielsweise die Klubkultur, aber auch visuelle Kultur und Kunst.

Wir wollen verschiedene Formate ausloten und auch experimentelle Sachen ausprobieren. Unser erstes Release war ein Tonziegel - also ein physikalisches Objekt. Zum Objekt gab es noch ein Album. Der Tonziegel ist stark konzeptionell mit dem Album verknüpft. Dieser Tonziegel ist ein Objekt per se und soll keiner Funktion dienen. Beides ist aber nicht voneinander trennbar. Wir möchten Kunst und Musik miteinander verschmelzen.

Weshalb wolltet ihr ein eigenes Label gründen?

Gray Chalk: Ein Vorteil von einem eigenen Label ist die Souveränität und Spontanität. Wenn wir Projekte fertig haben, können wir selber entscheiden, wann Dinge veröffentlicht werden sollen. Im Extremfall stelle ich heute etwas fertig und kann es morgen bereits digital veröffentlichen. Dinge sind nie so aktuell wie zum Zeitpunkt der Fertigstellung.

Für Künstler gibt es nichts Schlimmeres, als acht Monate auf eine Plattenpressung zu warten. Nach diesen acht Monaten ist das Produkt einfach nicht mehr aktuell. Wir leben in einer so schnelllebigen Welt. Trotzdem gibt es noch Labels, die Releasefristen von bis zu zwei Jahren haben. Das ist doch völlig absurd!

Aber ein digital-Release ist doch schnelllebiger als ein physischer Release?

Gray Chalk: Meinst du schnelllebiger oder langlebiger? Für mich sind das zwei Paar Schuhe. Wenn ich einen Film sehen möchte, dann kann ich diesen in fünf Minuten im Internet finden. Ausser es ist ein totaler Underground-Film... Vor 15 Jahren war das noch anders.

Letztendlich ist es nur ein Medium. Man wird auch in 40 Jahren noch eine WAV-Datei oder ein PDF-File anhören oder anschauen können. Du sprichst eher die Schnelllebigkeit der Gesellschaft an. Ich sehe diese nicht im Zusammenhang mit dem Medium.

Fokussiert und mit beiden Beinen im Moment: Gray Chalk beim Baseball.

Ich höre heraus, dass es dir sehr wichtig ist im Moment zu leben.

Gray Chalk: Das ist das grösste Dilemma von unserem Leben. Wir sind immer mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die innere Stimme sagt: «Du musst noch an einen anderen Ort». Wenn man dieser Stimme Raum verschafft, dann bedeutet das, dass die momentane Situation noch nicht gut genug ist. Es ist das grösste Dilemma, weil es konstant zwischen uns und unserem Leben steht. Mein musikalischer Prozess ist enorm davon geprägt.

Ein Beispiel wäre der Aufbau meines Studios. Ich strebe nach Instrumenten, um meinen Wunschzustand zu erreichen. Ich sage mir: «Wenn ich diesen Synth habe, dann produziere ich meinen Wunsch-Track». Nur schon zu wissen, dass es dieses Problem gibt, ist enorm hilfreich. Ich finde, dass Kunst mir dabei helfen kann, mich in den Moment zu versetzen. Dazu kommt mir ein Zitat von Heiner Müller in den Sinn: «Was jetzt passiert, ist die totale Besetzung mit Gegenwart». Das war in der Retrospektive sehr wichtig für mein Album und mir wird jetzt bewusst, dass für mich etwas Neues beginnt.


Beitragsbild: Gray Chalk by Marc Hofweber